Wir werden nicht eben freundlich von kläffenden Hunden begrüßt. Im Garten steht eine junge Frau, die uns bestätigt, dass dies die alte deutsche Kirche ist. Am Giebel steht eine Jahreszahl. Sie ist also erst 1935 errichtet worden. Inzwischen ist eine alte Frau aus dem Haus gekommen. Sie freut sich anscheinend über die Abwechslung und erzählt. Die Kirche wird nicht mehr benutzt, erklärt sie. Es sind nur noch wenige Menschen gekommen. Na klar! Nachdem die Deutschen fort waren, werden es nur wenige zum evangelischen Glauben konvertierte Polen gewesen sein, die die Kirche noch nutzten. Nie ma klucz, es gibt keinen Schlüssel, sagt sie. Deshalb steigen wir einfach auf einen Mauervorsprung und werfen durch ein zerbrochenes Fenster einen Blick in das Innere der Kirche. Sie ist teilweise ausgeräumt, aber die Bänke und ein einfacher Altar sind noch da. Hannes hält die Kamera einfach am ausgestreckten Arm in die Kirche und fotografiert sozusagen blind.
Die alte Frau hat offensichtlich Vergnügen an der Begegnung, Hannes fotografiert uns beide noch einmal und wir verabschieden uns.
(Nachtrag: Es gab auch vorher schon eine Steinkirche in Wionczemin. nach dem großen Hochwasser 1924 hatte sie einen Riss bekommen und man entschloss sich zum Neubau.)
Grab auf dem Friedhof von Wionczemin - Foto: Annegret Krause, 2002
Auf dem Rückweg zum Auto bleibt Hannes plötzlich stehen. Aus dem Gebüsch ragt ein Steinkreuz! Fliederbüsche! Der Friedhof! Wir hatten nicht gewusst, dass es hier einen gab. Tomaten hatten wir auf den Augen! Auf dem Hinweg war uns das nicht aufgefallen und auch jetzt wären wir fast daran vorbeigelaufen.
Aber nun gibt es kein Halten mehr und wir stürzen uns in ein wahres archäologisches Abenteuer.
Wir kämpfen uns durch Brennesseln und Brombeeren und entdecken einen Grabstein nach dem anderen. Lauter bekannte Namen: Rinas, Witzke, Neitsch, Hauer, Kühlmann, Ratz leider keinen Krause.
Wir legen die Steine frei, so gut es geht, um sie fotografieren zu können. Eine Säge könnten wir gebrauchen und eine Machete!
H. und D., meine amerikanischen "cousins" , die mir so viele Informationen über meine Familie geschickt haben, werden sich freuen. Hier liegen ja nicht nur meine Verwandten, sondern auch ihre.
So ein Friedhof erzählt Geschichten. Von Menschen, die hier gelebt haben. Von Kindern, die hier so oft früh gestorben sind, viele an Diphtherie, im 19. Jahrhundert auch noch an Pocken. Junge Leute starben an Tuberkulose. Viele Kinder haben sie bekommen, zehn und mehr waren durchaus üblich und oft haben nur die Hälfte das Erwachsenenalter erreicht. Und die Frauen! Was müssen sie für ein hartes Leben gehabt haben! Viele starben früh, so wie meine Urgroßmutter mit 38 Jahren vermutlich bei der Geburt des 15. (!) Kindes.
Ein Stein berührt uns besonders: Edmund Ratz, 1924 geboren, 1934 gestorben. Ein eingelassenes Medaillon, zeigt ein Foto von ihm, aber es ist zerstört. Jugendliche Randale? Oder Ausdruck von Hass auf alles Deutsche? Wir wissen es nicht.
Medaillon von Edmund Ratz - Foto: Annegret Krause, 2002
Wir finden sonst keine Anzeichen von aggressiver Zerstörung. Es fehlen zwar Grabsteine, aber die sind vielleicht einfach deshalb entfernt worden, weil man sie anderweitig gebrauchen konnte, als Treppenstufe oder im Fundament eines Hauses zum Beispiel.
Dieser Friedhof ist kein trauriger Ort, sondern ein tröstlicher. Die Spuren der Siedler sind nicht vollständig ausgelöscht, diese Menschen sind ja noch hier. Sie gehören zu dieser Gegend, so wie die Menschen, die jetzt hier leben. Und das ist gut so. Ein Ort ohne Geschichte ist leer, hat keine Tiefe.
Wir sind völlig zerkratzt, sehen aus wie die Schweine, aber wir sind glücklich.
Wir verlassen den Friedhof, um nun auch noch Tante Amandas Hof zu finden. Ihre Wegbeschreibung führt uns wieder völlig in die Irre. Auf einem Feldweg greifen wir entnervt zum Handy und rufen sie zu Hause an: Wo seid ihr? In Wionczemin, auf dem Acker. Wir haben den Friedhof gefunden, deine Großeltern! Sie ist vollkommen aus dem Häuschen, lässt sich unseren Standort beschreiben und dann sagt sie uns genau, wie wir gehen müssen, sie scheint mit ihren 80 Jahren ein fotografisches Gedächtnis zu haben.
Und so stehen wir schließlich (an der Kaiserstraße! Sie ist immerhin eine befahrbare Schotterstraße) vor ihrem Hof. Alles stimmt: die beiden Teiche, die beim Aushub für die Wurt entstanden sind, es ist die höchste im Ort, die Lage des Hauses, des Holzschuppens, die alten Bäume. Das alte Wohnhaus ist abgerissen worden, es war ein stabiles Holzhaus aus fünfzölligen Bohlen, wie sie mir einmal stolz erzählt hatte. Es ist ersetzt worden durch ein stattliches Steinhaus. Insgesamt macht dieser Hof einen florierenden Eindruck im Gegensatz zu vielen anderen.
Von hier aus müsste man nun auch den Hof der Krauses finden, die fünfte Einfahrt an der linken Straßenseite. Aber es ist schon fast dunkel geworden. Wir werden noch einmal herkommen müssen. So fahren wir erst einmal, erfüllt von den Erlebnissen und Eindrücken dieses Tages, zurück in unser Quartier.
Freitag, 4. Oktober 2002
Heute ist das Kontrastprogramm angesagt: Wir tauschen unsere Jeans und Wetterjacken gegen etwas stadtfeinere Kleidung und fahren nach Warschau. Es sind nur 45 km, erst Landstraße, dann kurz vor der Hauptstadt eine sechsspurige Schnellstraße, die uns am linken Weichselufer direkt zur Altstadt führt.
Warschau ist inzwischen eine europäische Metropole geworden. Schon vor der Stadt merkt man an vielen neu entstandenen Betrieben und großen Reklameschildern: Hier "rollt der Rubel", hier ist Kapital. Keine schäbigen Blechbuden mehr, wenig Provisorisches.
Die Altstadt liegt malerisch hoch über dem Weichselufer. Sie ist leicht zu finden, ebenso ein bewachter Parkplatz. Wir lassen uns einfach treiben und kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wunderschöne Gebäude, das Schloss, die Universität, die prachtvollen und reich geschmückten Bürgerhäuser am Stary Rynek, dem Altstädter Markt. Und doch ist diese ganze Herrlichkeit eine einzige Illusion: Kein einziges Haus ist wirklich alt. Die polnische Hauptstadt ist auf Hitlers Befehl dem Erdboden gleichgemacht worden, kaum ein Stein stand auf dem anderen. Alte Fotos, unaufdringlich in einigen Fenstern platziert, erinnern daran.
Der zerstörte Rynek - Foto: Annegret Krause, 2002
Nach dem Krieg wurde die Altstadt komplett und detailgenau wieder aufgebaut. Vorlagen waren alte Gemälde von Canaletto. Das Ergebnis kann nur Bewunderung hervorrufen. Die polnischen Restaurateure gelten als die besten der Welt. Wie schon einmal in Danzig stellen wir uns auch hier die Frage: Was bewegt Menschen zu solch einem enormen Kraftakt? Noch dazu in einer Zeit, als man weiß Gott andere Sorgen hatte, als die mit dem Leben Davongekommenen Mühe hatten, ihr tägliches Leben zu regeln, etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf zu bekommen. In einem Buch habe ich als Antwort auf diese Frage einmal die Äußerung eines Danziger Geistlichen gelesen: "Eine Stadt braucht eine Seele!", hat er gesagt. So einfach ist das? Vielleicht.
In einem Café am Schlossplatz begegnen wir einem sympathischen älteren Ehepaar aus Johannesburg in Südafrika. Die beiden befinden sich auf einer Europareise. Prag, Bratislava und Budapest, die zu den schönsten Städten Europas zählen, stehen noch auf ihrem Programm. Sie teilen unsere Begeisterung. Er ist Architekt und so wird unsere Bewunderung von kompetenter Seite bestätigt.
Wir fühlen uns so wohl, dass wir auf jede Besichtigung verzichten. Es gäbe so viel zu sehen: das Schloss, Vilanowa, Museen, Praga am rechten Weichselufer, den Łasienki-Park, das Gebiet des ehemaligen Warschauer Ghettos. Dazu nehmen wir uns einen zweiten Tag vor. (Daraus ist allerdings nichts mehr geworden, es wird deshalb also noch eine weitere Reise geben müssen. Mir ist das sehr recht.) Wir streunen einfach durch die Stadt, nehmen die Atmosphäre in uns auf, genießen die kleinen Gassen, die Durchblicke, die Antiquitäten- und Schmuckläden, die verschwiegen hinter den kleinen Fenstern verborgen sind. An keiner Stelle ist die Fassade für große Schaufenster aufgebrochen worden. Alles wirkt sehr stimmig.
Schließlich begeben wir uns noch auf die Suche nach einer Buchhandlung, um endlich die topographischen Karten zu kaufen, die wir so gerne haben möchten. In der dritten und vierten in der Nähe der Universität haben wir Glück. Die Karten verzeichnen jeden Weg, fast jedes Gebäude in den Dörfern, denen unser Interesse gilt.
Ich kaufe mir noch zwei Gedichtbände, einen von Julian Tuwim und einen von Wisława Szymborska, deren spröde Verse ich so sehr mag und die 1996 den Literaturnobelpreis für ihr lyrisches Werk erhalten hat. Gedichte sind eine sehr schöne Möglichkeit, sich einer Sprache zu nähern.
Am späten Nachmittag sind wir richtig "pflasterlahm", unsere Köpfe können nichts mehr aufnehmen und so fahren wir zurück in die wohltuende Stille am Deich.
Abends plaudere ich noch ein wenig in der mollig warmen Küche bei einer Tasse Tee mit K.. Über Warschau, den immer westlicher werdenden Stil, den sie nicht so mag, mit Hochhäusern, aufdringlicher Reklame, Coca Cola, Mac Donald’s und IKEA und über das beschauliche Leben in Secymin. Es ist so friedlich hier, sagt sie. Ja, das finden wir auch.
Samstag, 5. Oktober 2002
Diese tückischen Landkarten!
Sie sind so spannend, dass sie uns zu weiteren "archäologischen" Erkundungen verführen. Wir finden mehrere Friedhöfe eingezeichnet. "Cmentarz kolonistów" (Kolonistenfriedhof) steht dort an verschiedenen Stellen, unter anderem finden wir auch den in Sladów, den B. erwähnt hatte, allerdings an anderer Stelle, als sie dachte. So intensive Recherchen hatten wir eigentlich gar nicht vor, aber nun juckt es uns in den Fingern.
Wir fragen William, den Holländer, ob er uns für ein bisschen verrückt hält. Aber nein, er hat ein großes tolerantes Herz und darin haben auch zwei etwas spinnerte Lehrer aus Deutschland Platz, die in ihrem Urlaub nichts Besseres zu tun haben als auf alten, verwilderten polnischen Friedhöfen herumzukriechen.
Leider ist das Wetter umgeschlagen. Ein feiner Dauerregen hat sich eingestellt. Wir hoffen auf Besserung und schauen S. erst einmal bei seiner Käseproduktion zu. In seiner einfachen Milchkammer wird jeder Käse von Hand gemacht. 10 Liter Milch pro Stück wird mit Ferment versetzt. Dann presst er jeden Käse mit der Hand aus, die Feuchtigkeit muss raus, Reste von Fett auch. Das Ergebnis sind wunderbare Frischkäse, etwa eineinhalb Kilo schwer. Einige davon werden geräuchert zu einer besonders feinen Variante.
Das Wetter bessert sich nicht und so brechen wir trotzdem auf. S. hatte uns am Abend vorher erzählt, dass der Pfarrer der katholischen Kirche in Secymin damit begonnen hat, den alten deutschen Friedhof zu restaurieren. Wir finden ihn auch gleich. Er liegt auf einem Hügel am Ortsausgang in einem Wald, befreit vom Unterholz, so dass die Gräber schon von der Straße aus deutlich sichtbar sind. Es sind nicht mehr viele intakt. Ich entdecke einige bekannte Namen, aber niemanden aus meiner engeren Verwandtschaft. Im Stillen hatte ich gehofft, die drei früh gestorbenen Geschwister meines Vaters und meinen Urgroßvater zu finden. Aber wir sind nicht wirklich enttäuscht. Wir freuen uns vielmehr, dass sich jemand (Ein Pole, ein Katholik was für eine schöne Geste!) dieser Stätte angenommen hat. Es wird ein richtiger Zaun gebaut. Einige sorgfältig aus Ziegeln gemauerte Pfosten stehen schon.
Unsere nächste Station ist Sady, Nachbarort von Wionczemin, diesmal auf dem Weg über Piotrkówek und Zyck. Hier ist meine Urgroßmutter geboren, hier lebten Ur-Ur-Großeltern von mir: Gatzkes, Dobslaws, Gurskis. Der Friedhof scheint nach der Karte irgendwo im Gelände in der Nähe eines Baches zu liegen, ein Weg dorthin ist nicht eingezeichnet. Nun heißt es also wieder suchen. Den Bach finden wir, wir laufen über einen Acker, suchen einige Gehölze ab, der fette Boden klebt in Klumpen an unseren sowieso schon nassen Schuhen aber wir finden nichts.
Schließlich fragen wir eine Frau, die per Fahrrad mit einer Milchkanne den Weg entlang kommt, ob sie von dem alten deutschen Friedhof weiß. Natürlich weiß sie! Alle, die wir fragen, kennen diese Plätze. Er liegt "in der Mitte des Dorfes", sagt sie und zeigt in die Richtung. In der Mitte des Dorfes, das ist nun wirklich ein Witz! Wir sehen nur verstreute Höfe, von einem Dorf, so wie wir es kennen, kann keine Rede sein, man weiß sowieso nicht, wo das eine aufhört und das andere anfängt. Wo, bitteschön, soll denn hier eine Mitte sein?
Aber wir sind unverdrossen, biegen von der Hauptstraße in einen Weg ein, landen auf einem Gehöft. Kläffende Hunde zur Begrüßung, eine freundliche junge Frau kommt heraus, die wir fragen können. Es erscheint noch eine ältere, und die schickt uns hinter ihrem Hof quer über eine nasse Wiese. Sie zeigt auf ein ärmlich wirkendes Holzhaus auf dem Hügel. Neben diesem Haus sei der Friedhof.