Marcin Zamorski schreibt Reiseführer für Radtouristen (www.wyspawolin.pl). Er lebt mit seiner Familie in Warschau und nimmt lebhaften Anteil an der Geschichte und den Geschichten, die sich hinter den Landschaften verbergen, über die er schreibt.
Er erkundete die Gegend nordwestlich von Warschau, um Material für sein neues Buch zu sammeln, als einige ungewöhnliche Einzelheiten der Landschaft seine Aufmerksamkeit weckten. Und er begann, Fragen zu stellen …
Ich bin in Warschau geboren und aufgewachsen. So verbrachte ich die 34 Jahre meines Lebens niemals sehr weit von der Weichsel entfernt. In all dieser Zeit hatte ich niemals davon gehört, dass fast zweihundert Jahre lang deutschsprachige Bauern ganz in der Nähe gelebt haben. Um genau zu sein fast niemals.
Ich erinnere mich, dass meine Großmutter, während sie mir Geschichten aus der guten alten Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg erzählte, den Namen eines Ortes in der Nähe von Warschau erwähnte: Kazuń Niemiecki. Unabhängig von dem Inhalt der Geschichte, die Großmutter gerade erzählte fragte ich: "Großmutter, aber warum Niemiecki?" (was auf polnisch "deutsch" bedeutet). Dieser Name klang für mich damals ein wenig erschreckend, aber gleichzeitig auch sehr interessant (wie damals alles, was deutsch war). Großmutter erzählte mir dann, dass der Ort früher hauptsächlich von Deutschen bewohnt wurde, aber mehr könnte sie mir auch nicht sagen.
Das war das erste und auch das letzte mal, dass ich von den deutschen Kolonisten gehört habe selbst nach dem Fall des Kommunismus, als alle Tageszeitungen, Magazine, Radio und Fernsehen voll waren von den vergessenen Episoden der polnischen Geschichte. Das letzte mal bis heute.
In den letzten drei Jahren war ich häufig mit dem Rad an der nordwestlichen Peripherie Warschaus unterwegs. Meine Touren führten mich regelmäßig am linken Weichselufer entlang. Von Anfang an war ich überrascht, wie sehr sich die Landschaft innerhalb der ersten 2 bis 3 Kilometer vom Ufer verändert. Sie unterscheidet sich sehr von dem Anblick, den die Dörfer der Region Masowien üblicherweise bieten. Sie ist sehr friedlich, sanft idyllisch und entspannend. Die ebenen, regelmäßigen Felder mit kleinen Seen und Teichen. Und diese wunderschönen Bäume: geschnittene Kopfweiden in geraden Reihen. Besonders gerne fahre ich an einem der sonnigen Wochenenden im Mai mit meiner Frau und meinem kleinen Sohn dort hin. Wir strecken uns auf dem grünen Gras aus, pflücken Blumen und schauen den Wolken nach. Wenn wir auf den wilden, schönen Strom schauen, können wir nicht glauben, dass er immer noch einer der schmutzigsten in Europa ist. Obwohl ich damals noch nicht die charakteristischen alten Holzhäuser entdeckt hatte, war ich mir sicher, dass es eine Geschichte hinter dieser ungewöhnlichen Landschaft geben musste ...
Die Frage, wie dieser Geschichte aussah, ließ mich nicht mehr los.
Letztes Jahr begann ich, Material für einen Reiseführer für Radtouristen zu sammeln, der unter anderem auch die Weichselufer westlich von Warschau abdecken sollte. Das war auch der Moment, als ich begann ernsthaft nach einer Antwort auf die Frage nach der Geschichte dieser Landschaft zu suchen.
Ich fand die Antwort relativ schnell im Internet und in einigen anderen Reiseführern: die holländischen Kolonisten. Es zeigte sich, dass mittlerweile die Kolonisierung der Weichselufer durch sogenannte "Olender" (was die alte polnische Bezeichnung für Holländer ist) unter den polnischen Heimatforschern und Ethnologen zu einem sehr populären Thema geworden ist. Es gibt einige polnische wissenschaftliche Studien und Artikel und zumindest zwei kürzlich veröffentlichte Bücher zu diesem Thema.
Ich denke, das interessanteste der Bücher ist: "Katalog zabytków osadnictwa holenderskiego na Mazowszu" (Katalog der Kulturdenkmäler holländischer Besiedlung in Masowien), geschrieben von Jerzy Szałygin, einem warschauer Architekturhistoriker. Es ist eine detaillierte Untersuchung der ehemaligen "Olender" Dörfer entlang des Weichselufers zwischen Płock und Warschau die alle erhaltenen Gebäude und Friedhöfe auflistet.
Nachdem ich diese Buch aufmerksam gelesen hatte, beschloss ich, meine Lieblingsplätze erneut aufzusuchen und nach einigen dieser Denkmäler Ausschau zu halten. Auch fragte ich mich, ob sich nicht einige der Anwohner noch an diese ungewöhnlichen Nachbarn erinnern würden.
Mein erster Eindruck war traurig in den meisten Fällen waren die Kopfweiden und die fein gegliederte Landschaft die einzigen Erinnerungen an die Kolonisten. Sogar die Zusätze "Niemiecki" bei den Ortsnamen waren nach dem Krieg in "Nowy" (neu) geändert worden. Die wenigen originalgetreuen Holzhäuser, die sich bis heute erhalten konnten, waren meist in einem hoffnungslosen Zustand.
Altes Bauernhaus bei Secymin - Foto: Marcin Zamorski, 2004
Ich besuchte auch die alten Friedhöfe. Zwei von ihnen, in den verlassenen Dörfern Famułki Królewskie und Wladyslawow - tief in den Wäldern des Kampinoska Nationalparks gelegen, existierten praktisch nicht mehr. Die Grabsteine waren gestohlen (man erzählte mir, sie wurden dazu benutzt, die Fundamente der neuen Häuser zu bauen) und das Unterholz hatte die Flächen überwuchert. Nur der Friedhof von Secymin Nowe bietet einen anderen Anblick. Warum darauf werde ich im letzten Teil dieses Artikels noch zurückkommen.
Generell sah es so aus, als ob die Geschichte der Kolonisten fast ganz in Vergessenheit geraten wäre. Ich fragte mich, ob das wirklich so war.
Also begann ich Fragen zu stellen. Leider wussten die meisten der älteren Leute, mit denen ich gesprochen habe, nichts zu berichten. Sie wurden hier als polnische Ostflüchtlinge erst nach dem Krieg angesiedelt. Jüngere Leute erinnerten sich nur, dass ihre Eltern erzählt hatten, dass "früher hier viele Deutsche gelebt hätten". Endlich fand ich aber einen über 80jährigen, der sich an alles sehr gut erinnern konnte. Folgendes hat der alte Mann mir erzählt:
"Wir waren eine von nur zwei polnischen Familien, die hier in Myszory und Famułki Królewskie wohnten. Alle anderen waren Deutsche. Vor dem Krieg hatten wir ein sehr gutes Verhältnis miteinander. Da unser Ort weiter vom Fluss entfernt war als die anderen, mussten wir die Weichselfluten nicht fürchten. Nach einer der größeren Fluten kamen einige deutsche Bauern, die ihre Vorräte verloren hatten, zu meinem Vater, um Weizen zu kaufen. Ich erinnere mich, dass alle ihn "Nachbar" nannten, obwohl sie uns zum ersten mal sahen [eine Bezeichnung, die in Polen nur für die am gleichen Ort lebenden Mitbewohner verwendet wird].
Wir gingen mit den deutschen und den jüdischen Jungen zur Schule und wir waren gute Freunde. Der einzige Unterschied zwischen uns war, dass wir einmal pro Woche in unterschiedliche Kirchen gingen. Sie sprachen gut Polnisch, hatten aber einen charakteristischen Akzent. Die Deutschen waren sehr gute Bauern, sehr eifrig und hart arbeitend und in den meisten Fällen reicher als wir.
Alles änderte sich während des Krieges. Für die meisten unserer Nachbarn war der deutsche Angriff eine Unglück. Sie fühlten sich sehr unbehaglich mit der neuen Situation und wollten unser gutes Verhältnis nicht aufgeben. Aber natürlich gab es auf beiden Seiten auch negative Einstellungen vor allem bei der jüngeren Generation. In den ersten Tagen des Krieges griffen polnische Jungen (denn die meisten Erwachsenen waren ja in der Armee) zu den Waffen und versuchten, einige der Bauern als deutsche Spione zu verhaften und nach Bereza Kartuska zu bringen. Ich denke nicht, dass diejenigen, die beschuldigt wurden, wirklich die Spione waren meines Wissens nicht. Viele der jungen Deutschen in anderen Dörfern sympathisierten mit Hitler und waren Mitglieder der geheimen Naziorganisationen. Natürlich, die meisten dieser polnischen Jungen wurden später von der Gestapo getötet.
Während der Besatzung gab es unter uns Nachbarn einige, die uns wie untergeordnete Personen behandelten und betonten, dass nun sie am Drücker säßen. Aber meine Familie hat keinen ernsthaften Schaden durch sie erfahren. In einigen anderen Dörfern verhafteten die Nazis Leute auf der Straße und brachten sie als Zwangsarbeiter ins "Reich". Aber in unserem Dorf kam der Ortsvorsteher, der ein Freund meines Vaters war, zu uns und sagte, dass es einen Befehl gäbe, je ein männliches Mitglied jeder polnischen Familie zu schicken. Er gab uns die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, wen wir senden wollten. Meine Eltern wählten mich aus und so ging ich für drei Jahre nach Ostpreußen.
Als das, was die Deutschen die "Ivan Front" nannten [die Front der sowjetischen Roten Armee] näher kam, liefen alle Deutschen davon. Einige von ihnen kamen nach dem Krieg zurück. Aber ihre Häuser waren bereits von den Flüchtlingen aus dem zerstörten Warschau und aus dem Osten übernommen worden.
Ich vermisste meine Freunde sehr."
Bis jetzt ist dieser alte Mann der einzige, den ich getroffen habe, der sich an die Deutschen Kolonisten erinnert. Aber obwohl es so aussieht, als ob sie in der Erinnerung der meisten Leute nicht überlebt haben, so haben doch bestimmte Elemente ihrer Tradition auf die ein oder andere Weise überlebt. Als ich kürzlich wieder durch die Weichseldörfer gefahren bin, vielen mir neu errichtete Weidenflechtzäune auf. Ich sprach mit den Eigentümern eines dieser Zäune junge Leute, die vor einigen Jahren von Leoncin hergezogen waren. Es stellte sich heraus, dass sie nichts über den Ursprung dieser Zaunart wussten und dass sie niemals von den Kolonisten gehört hatten. Sie hatten ähnliche Zäune auf einem der umliegenden Höfe gesehen und sie gefielen ihnen so gut, dass sie beschlossen, sie zu kopieren. Es zeigte sich, dass einige Männer im Dorf noch wussten, wie diese Art von Zaun gebaut wird (es ist nicht so einfach, wie es aussieht). Da heute viele Leute aus der Stadt hier draußen alte Bauernhäuser als Sommerhäuser kaufen, ist es möglich, dass sich diese "Mode" wieder über die ganze Region ausbreitet.
Weidenzaun - Foto: Marcin Zamorski, 2004
Es gibt aber auch noch ein sehr positives Beispiel dafür, wie das Vermächtnis der Kolonisten bewahrt wird die ehemalige evangelische Kirche in Secymin Nowy. Sie ist eines der zwei offiziell registrierten architektonischen Denkmäler der Kolonisten am linken Weichselufer zwischen Wyszogród und Warschau. Die Kirche gehört heute der römisch-katholischen Gemeinde. Obwohl sie nur wenige male pro Jahr benutzt wird, wurde sie vor einigen Jahren sehr sorgfältig restauriert. Die gleiche Gemeinde kümmert sich auch um den alten evangelischen Friedhof. Sie haben das Unterholz entfernt und bauten auch einen neuen Zaun an der Vorderseite. Ich habe gehört, dass der leitende Priester der Gemeinde sogar daran denkt, in der Kirche ein Museum einzurichten.
Tatsächlich sind Secymin Nowy und Nowy Wilków die einzigen Orte dieser Region, in der die alte Siedlungsstruktur noch weitgehend erhalten geblieben ist. Viele der Bauernhäuser dort wurden inzwischen als Ferienhäuser gekauft darunter auch einige alte Kolonistenhäuser für sie gibt es also eine Chance, dass sie restauriert werden.
Trotz der gegenwärtig noch etwas traurigen Situation, gibt es also die Möglichkeit, dass Teile der Kolonistengeschichte wieder erweckt werden.
Uns Polen, die wir heute in einem der ethnisch homogensten Länder Europas leben, erscheint die multikulturelle Geschichte Polens immer faszinierender. Bestes Beispiel hierfür ist die Geschichte der polnischen Juden, die für Jahrzehnte ein Tabu war und inzwischen intensiv recherchiert wird in einigen Kreisen regelrecht "trendig" ist. Das gleiche kann mit der Geschichte der Kolonisten geschehen, die bereits zahlreiche polnische Historiker in ihren Bann geschlagen hat. Im günstigsten Fall wird sie von den Medien aufgegriffen was für einige der letzten Erinnerungen an den Nachlass der Kolonisten vielleicht die letzte Möglichkeit zu ihrem Erhalt ist.