Wir lassen unser Auto bei ihnen stehen und machen uns auf den Weg. Die Füße sind sowieso nass, die Hosenbeine allmählich auch, aber das macht nichts. Wir begrüßen eine einsame, angepflockte Kuh, wie sich später herausstellt, ist es die einzige, die diese Familie besitzt.
Das kleine, geflickte Holzhaus auf dem Hügel ist umgeben von einem Garten. Eine alte Frau, die dort allein zu wohnen scheint, winkt uns um das Haus herum und zeigt uns den Zugang zum Friedhof, nachdem wir ihr erklärt haben, was wir dort wollen. Sie erzählt uns, dass das Gebäude einmal eine Schule war, die auch als Kapelle genutzt wurde. Wir fragen, ob wir es fotografieren dürfen. Sie hebt etwas unsicher die Schultern. Aber wir dürfen.
(Nachtrag: Inzwischen weiß ich, dass mein Ur-Ur-Großvater Johann Friedrich Grüning in Sady Lehrer war. Das muss um 1840 herum gewesen sein. Ob dies wohl seine Schule war?)
Auf dem Friedhof finden wir nicht so viele Grabsteine wie in Wionczemin, aber immerhin doch einige. Zwei Dobslaws, zwar keine direkten Vorfahren, dazu sind sie zu jung, aber wahrscheinlich doch Verwandte. Einen Gleske, der wird H. freuen, außerdem die Namen Rahn, Klatt und Kühlmann.
Als wir zu unserem Auto zurückkommen, werden wir schon erwartet und zu einem Tee eingeladen. Wir nehmen gerne an. Und nun erfahren wir wieder, was polnische Gastfreundschaft ist.
Wir werden in die gute Stube gebeten, der Raum ist voll von Kindern und jungen Leuten, die uns freundlich und neugierig beobachten. Die ältere Frau zeigt stolz auf sie: zehn Kinder hat sie, dazu einen Enkel. Und nun wird aufgefahren. Ein "Tee", das bedeutet, wir bekommen Brot, Wurst, dazu warme Kasza, in diesem Fall eine Art Grützwurst. Und da hilft kein Zieren, wir müssen essen, alles andere wäre unhöflich und undankbar. Wir sind beeindruckt von der Herzlichkeit dieser Menschen. Man sieht, dass sie nicht auf Rosen gebettet sind. Wir denken an die eine einzige Kuh.
Wir unterhalten uns, so gut es geht, manchmal muss das Wörterbuch helfen. Schließlich machen wir noch ein Foto von allen und versprechen, es zusammen mit einem Brief zu schicken.
Der Abschied ist herzlich und nun müssen wir uns beeilen. Wir wollten noch einmal in Wionczemin nach dem Krauseschen Hof Ausschau halten, dazu noch nach Borki.
Als wir fahren, bedaure ich, dass wir das Anwesen nicht von außen fotografiert haben. Wir fanden es distanzlos und mochten es nicht tun. Aber wer weiß, es könnte ja sein, dass wir in der guten Stube meiner Ur-Ur-Großeltern gesessen haben und vielleicht hätte Tante Amanda den Hof erkannt. Es könnte sein, muss aber nicht.
Wionczemin bei schlechtem Wetter. Jetzt wirkt es sehr trist. Die ausgeräumte Landschaft unter grauem Himmel, die alten Bäume fehlen und die Obstgärten. Nein, das ist kein guter Ort mehr zum Leben, so kommt es uns jetzt vor. Für diejenigen, die hier einmal gewohnt und 1945/46 ihre Habe zurückgelassen haben, muss der Anblick bitter sein. Aber wir Nachgeborenen haben eine andere Perspektive: Wir freuen uns eher, dass wir nach fast 60 Jahren überhaupt noch so viel finden.
Wir fahren noch einmal die "Kaiserstraße" entlang und fotografieren vorsorglich alles, was an Höfen noch da ist. Sie liegen ziemlich weit entfernt von der Straße, so dass wir keine guten Bilder erwarten. Aber vielleicht hilft Tante Amandas Gedächtnis uns weiter. Einige Höfe scheinen abgerissen zu sein, die Wurten sind noch erkennbar, aber die Gebäude fehlen. Es sieht so aus, dass dieser Teil des Ortes der PGR zum Opfer gefallen ist. Was im Wege war, wurde abgeräumt.
So können wir auch nicht genau ausmachen, welches die fünfte Zufahrt von Tante Amandas Hof aus ist.
Weiter geht es nach Borki, dem Geburtsort von D.s Mutter. Ich möchte für ihn noch ein paar Fotos vom Dorf machen. Auch hier ist ein alter Friedhof auf der Landkarte eingezeichnet. Wir finden ihn sofort und auch noch einige wenige Steine, deren Namen uns etwas sagen.
Es wird Zeit. Wir haben uns zum Mittagessen in Secymin angemeldet. In Polen isst man um drei Uhr nachmittags die Hauptmahlzeit. So müssen wir Gąbin, den Sitz der Kirchengemeinde für alle diese Dörfer, auslassen.
M. hat ein herrliches Pilzgericht gekocht, auf polnische Art deftig mit viel Sahne, überwiegend Champignons, die man hier auf den Wiesen anscheinend mit der Sense mähen kann. Dazu Kartoffeln, Salat und Rohkost.
Heute ist Friedhofstag. Nun soll er auch so zu Ende gehen. In unserer Sammlung fehlen noch der in Sladów und der in Piaski Duchowne. Ich weiß nur, dass die Eltern meiner Großmutter aus Piaski kamen, aber ob es dieses Piaski ist, weiß ich nicht. Es liegt aber nahe. Deshalb hoffe ich ein bisschen, dass der alte Friedhof uns Aufschluss gibt, dass wir dort sozusagen den "Nugget" auf unserer "Goldsuche" finden.
Jetzt, mit der Karte, finden wir den Friedhof in Sladów sofort. Er liegt in einem richtigen Wald unter hohen Bäumen. Auf dem Boden dichte Teppiche von ausgewildertem Immergrün (Vinca minor), einer typischen Friedhofspflanze. Wir finden einige wenige Steine, fast alle Namen sind mir bekannt. Auf einigen Gräbern liegen Plastikblumen und Kerzen. Erstaunlich. Das Fotografieren ist wegen der Lichtverhältnisse schwierig: Es ist ziemlich dunkel, die Steine glänzen nass, so dass das nötige Blitzlicht reflektiert. Wir hoffen, dass die Bilder trotzdem ganz ordentlich werden.
Jakob Stefan Drachenberg (1802-1888) - Foto: Annegret Krause, 2002
Und nun auf dem Rückweg der letzte: Piaski. Wieder finden wir zuerst nichts. Wir streunen um einen alten fast zusammengefallenen Holzschuppen herum, finden auf einem Schutthaufen einen zerbrochenen Grabstein, der unseren nun schon erlahmenden Forschergeist noch einmal anstachelt. Das Gelände dahinter fällt aber in ein Feuchtgebiet ab und wir wissen inzwischen immerhin so viel, dass Friedhöfe hier in der Niederung wegen der Überschwemmungsgefahr vorzugsweise auf Hügeln angelegt worden sind. Hier kann es also nicht sein.
Wir sehen einen älteren Mann, der sich der an der Straße gelegenen Bushaltestelle nähert und fragen ihn. Der Bus hat offensichtlich Zeit, der Mann auch und wie!
Natürlich weiß auch er den gesuchten Weg sofort. Aber er freut sich so über uns und darüber, dass er seine Deutschkenntnisse anwenden kann, die er bei einem Aufenthalt in Deutschland vor 30 Jahren erworben hat, dass er sich förmlich überschlägt in dieser etwas putzigen, geschraubten altmodischen Form von polnischer Höflichkeit mit ihrer blumigen Sprache und den "Bücklingen" vor Frauen. Er möchte selbst nachforschen, wir sollen ihm die gesuchten Namen und unsere Adresse aufschreiben. Mal sehen, was daraus wird.
Er hält uns so lange mit "Schnack" auf, bis es dunkel ist und wir unser Vorhaben auf den nächsten Tag verschieben müssen. Aber es war urkomisch und sehr nett.
Sonntag, 6. Oktober 2002
Heute ist schon unser letzter Tag. Nach dem Frühstück scheint die Sonne wieder und die Landschaft leuchtet in herbstlichen Farben. Also satteln wir unsere Fahrräder und brechen zu einer größeren Tour in den Kampinoski-Nationalpark auf. Hier gibt es ausgedehnte Kiefernwälder, Auwälder, Sanddünen mit einer reichen Flora und Fauna. Elche soll es hier unter anderem geben, Biber und Luchse. Am südwestlichen Ende, in ¨elazowa Wola, steht das Geburtshaus von Chopin, heute ein Museum, in dem es in der Sommersaison bis Ende September an jedem Sonntag Vormittag ein Klavierkonzert gibt. Dafür sind wir leider zu spät dran. Außerdem wäre es mit dem Fahrrad zu weit und so verzichten wir.
Der Weg durch den Wald entschädigt uns aber für diesen entgangenen Genuss. Wir radeln durch ausgedehnte Kiefernwälder, unter den Kiefern wachsen Eichen auf und Wacholder. In den Moosteppichen jede Menge Pilze und wir sehen auch entsprechend viele Sammler. Eigentlich ist das Sammeln zumindest an Wochenenden verboten, aber hier scheint sich niemand darum zu kümmern.
Bei einem Forsthaus kommen wir an eine Schranke und ein Schild: Durchfahrt verboten. Ob das auch für Fahrräder gilt? Wahrscheinlich ja. Aber wir sehen eine Fahrspur, beschließen, dass wir dürfen und heben unsere Räder einfach über die Schranke. Wir sind auch ganz brav, sind ganz leise, kommen nicht vom Wege ab ….
Wir befinden uns jetzt in dem streng geschützten Bereich des Parks, einem Urwald, teilweise Auwald. Alles wird so gelassen, wie es ist, umgestürzte Bäume bleiben liegen, von Moos überwachsen. Hier könnte man sich vorstellen, einem Elch zu begegnen. Wir sind aber nicht sehr erpicht darauf und die Elche wohl auch nicht auf uns.
Der Kampinoski-Park hat aber noch eine andere, eine grausige Berühmtheit. In diesen unzugänglichen Wäldern wurden polnische Führungspersönlichkeiten, Angehörige der Intelligenz und Partisanen von den Nazis ermordet und in Massengräbern verscharrt. Etwa 2000 Gebeine sollen hier liegen. Zwei Grabkreuze mit Gedenktafeln, an denen wir vorbeikommen, erinnern daran.
Ja, so ist es uns in Polen oft gegangen: Wie in einem Vexierbild sieht man Vergangenes und Gegenwärtiges, Böses und Gutes, Schönes und Trauriges, Erhebendes und Deprimierendes, Harmloses und Dramatisches gleichzeitig. Es kommt darauf an, wie man schaut. Und uns ist es wichtig, möglichst viele dieser Facetten in uns aufzunehmen.
Als wir aus dem Wald herauskommen hat es wieder angefangen zu regnen und wir haben noch mindestens 15 Kilometer vor uns. Es hilft nichts, trotz Regenjacken werden wir ziemlich nass. Wir sind froh, einen kleinen geöffneten Lebensmittelladen zu finden und versorgen uns mit Energie in Form von Schokolade. Das letzte Stück geht so viel leichter.
Nach einem wahren Sonntagsessen und einem kleinen Nickerchen in unserer gemütlichen Höhle brechen wir noch einmal mit dem Auto auf.
Piaski erweist sich als Flop. Wir müssen diesmal durch dornige Schlehen kriechen. Ich mache mir Sorgen um meine geliebte Goretex-Jacke. Aber sie hält durch und ich auch. Es ist schnell klar, dass hier zwar noch Reste von Gräbern sind, aber keine Steine oder Tafeln. Es wird also nichts mit dem "Nugget".
Und so fahren wir schnell weiter durch Sladów, wo wir noch ein paar Fotos für B. machen (schade, dass es regnet und alles sehr grau aussieht), noch einmal auf die andere Weichselseite nach Czerwińsk nad Wisła, das wir in der Ferne immer leuchten sahen.
An der Brücke halten wir noch einmal an. Diesen Blick auf den Fluss wollen wir uns nicht entgehen lassen. Grau und neblig, so hat diese Landschaft einen ganz eigenen Reiz voller Melancholie.
Es ist schon dämmerig, als wir an unserem Ziel ankommen. Auf dem Hof der Basilika bleiben wir staunend stehen. So mächtig und groß haben wir sie uns nicht vorgestellt. Aus dem 12. Jahrhundert, unverkennbar in romanischem Baustil mit mächtigen Mauern, dazu schon einige filigranere gotische Teile.
Daneben befindet sich die weitläufige Klosteranlage. Das Ganze liegt auf einem erlesenen Platz mit wunderbaren Ausblicken hoch auf dem Steilufer der Weichsel. Für eine Besichtigung ist es schon zu spät und so beschließen wir damit das Programm unserer Reise.
Montag, 7.Oktober 2002
Packen, letztes Frühstück, herzlicher Abschied und Abreise. Wir haben uns vorgenommen, den Rückweg an einem Tag zu schaffen und wählen dafür eine andere Route: über Płock, an Toruń und Bydgoszcz vorbei, über Piła zum Grenzübergang Kostrzyn / Küstrin. Die Entscheidung erweist sich als goldrichtig. Bessere Straßen, weniger Lastwagen, schönere Gegend, insgesamt relativ entspannt zu fahren.
Nach zwölfeinhalb Stunden kommen wir wohlbehalten zu Hause an.
Was bleibt? Ein wahrer Reichtum an neuen Erfahrungen und Eindrücken und der Wunsch, dass dies nicht die letzte Reise nach Polen war.