Es ist immer dasselbe: Was? Ihr wollt nach Polen? Wollt ihr euer Auto loswerden? Das sind häufige Reaktionen, wenn wir erzählen, dass wir nach Polen reisen. Mindestens Erstaunen, wenn nicht Vorurteile und Unverständnis überall. Es ist nun meine vierte und Hannes’ dritte Reise. Und wir haben bisher nur gute Erfahrungen gemacht.
Ja, was wollen wir dort eigentlich? Was fasziniert uns so an diesem Land?
Es ist nicht nur mein Interesse an den "Wurzeln" meiner Familie. Das ist es zwar auch: Ich möchte die Landschaft an der Weichsel in Mittelpolen kennen lernen, in der meine Vorfahren gelebt haben, das Lebensgefühl, mit dem sie ihre Höfe bewirtschaftet haben. Ich möchte ein Gefühl dafür bekommen, was es mit den "blühenden Obstgärten" aus den Erzählungen auf sich hat, das Anlegen von Obstgärten war ja nicht nur real, sondern ist auch eine Metapher für eine Lebenseinstellung.
Auch wollte ich wissen, was es bedeutet, an einem so großen wilden Strom wie der Weichsel zu leben. Sich anpassen an die Gegebenheiten der Natur, an die Weite, das Wirtschaften auf dem fruchtbaren Schwemmland und das Leben mit den Gefahren durch Überschwemmungen.
Polen, das ist auch ein Brennglas für europäische Geschichte. Nirgendwo sonst kann man ihre Brüche und Widersprüche so hautnah erleben. Das friedliche Zusammenleben verschiedener Völker und Kulturen einerseits und ihre erbitterte Feindschaft andererseits. Polen als "Stehaufmännchen" der Geschichte. Immer wieder ist es aufgeteilt, besetzt, von der Landkarte gelöscht oder auf ihr verschoben worden.
Und doch hat es seine eigene Kultur über die Jahrhunderte gerettet, eine große europäische Kultur, mit bedeutender Literatur, Musik und Kunst. Das Land hat vier Literaturnobelpreisträger aufzuweisen, Chopin kam aus Polen, weltberühmte Filmregisseure wie Andrzej Wajda und Roman Polanski haben ihr Handwerk an der Filmhochschule in Łódź gelernt.
Die Dichter Polens hatten auch immer eine politische Funktion: In den 123 Jahren der Aufteilung zwischen Russland, Preußen und Österreich-Ungarn war es neben der Kirche die Literatur, die die nationale Identität bewahrt hat.
Die Kultur der Polen zeigt sich besonders augenfällig in den großartigen Restaurationsleistungen. Schon in Danzig und Masuren hat uns das sehr beeindruckt. Dieses Mal war es die komplett wieder aufgebaute Altstadt von Warschau.
Ja, und dann meine Lust und mein Interesse an der polnischen Sprache. Ich glaube, andere halten mich für ein bisschen verrückt, zumindest ist es ein sehr exotisches "Hobby". Warum eigentlich? Es ist doch im Grunde etwas sehr Normales, die Sprache des Nachbarlandes sprechen zu wollen. Aber wir sind nach dem Krieg so westlich orientiert worden, dass es kaum jemandem in den Sinn kommt, einmal nach Osten Ausschau zu halten.
Dienstag, 1. Oktober 2002
Nachdem wir per Telefon unsere Unterkunft beim "European Centre for Ecological Agriculture and Tourism Poland” noch einmal bestätigt bekommen haben, fahren wir gegen 10 Uhr los. Wir wollen uns für die Fahrt zwei Tage Zeit nehmen. Obwohl es laut Routenplaner nur 845 km sind, rechnet er uns 13 bis 14 Stunden Fahrzeit aus. Es gibt kaum Autobahnen in Polen und die Route Berlin-Warschau ist stark frequentiert.
Die Fahrt ist entsprechend anstrengend. Viele Lastwagen, enorme Spurrillen auf den Straßen und einige Verrückte, die offensichtlich meinen, die Straße sei dazu da, mit dem Leben zu spielen. Manche Leute fahren schrecklich riskant.
An der Grenze die übliche Langsamkeit und das Desinteresse der Grenzbeamten. Gelegentlich winken sie jemanden aus der Schlange und lassen ihn ihre Macht spüren. Wie schön wird es sein, wenn Polen in die EU aufgenommen ist und man einfach durchfahren kann!
Wir fahren bis Konin, so dass für den zweiten Tag nur noch 200 km bleiben. Konin war mir bekannt aus dem gleichnamigen Buch, das ich vor einigen Jahren gelesen habe. Der jüdische Autor (Name vergessen, Buch verliehen und nicht wiederbekommen) hat in jahrelanger akribischer Forschungsarbeit die jüdische Bevölkerung der Stadt rekonstruiert. Eine Puzzlearbeit wie meine Familienforschung.
So erwarten wir eine verwinkelte alte Stadt. Aber nichts da: die Altstadt ist nur unter großen Mühen zu finden und verschwindet fast inmitten von Hochhäusern und großen Wohnsiedlungen, überwiegend in sozialistischer Plattenbauweise von atemberaubender Hässlichkeit. Auch das Hotel, das wir nach einigem Fragen (Du liebe Zeit! Mein Polnisch reicht zwar, um nach dem Weg zu fragen, aber die Antworten!!! Bis zur nächsten Straßenunterführung verstehe ich noch einigermaßen genau, aber dann komme ich nicht mehr mit und habe nur einen ungefähren Eindruck von der Himmelsrichtung.) schließlich finden, hat den gleichen sozialistischen Charme, ironischerweise heißt es "Sonata" und steht in der "ulica Chopinska". Aber es ist in Ordnung, hat, wie alle Unterkünfte, einen rund um die Uhr bewachten Parkplatz (dies zum Thema "Autoklau") und ist nach unseren Maßstäben mit 50 € für ein Doppelzimmer billig.
Im Reiseführer lese ich, dass sich die Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten versiebenfacht hat. In Konin wird Braunkohle im Tagebau gefördert. Und man riecht es auch! Es riecht wie in Salzwedel unmittelbar nach der Wende.
Mittwoch, 2. Oktober 2002
Nach einem ordentlichen Frühstück brechen wir auf. In Kutno biegen wir von der Hauptstraße in Richtung Płock ab. Beim Überqueren der Weichselbrücke bekommen wir einen ersten Eindruck von diesem großartigen Strom. Die Stadt liegt hoch über dem rechten Weichselufer, teilweise sehr malerisch, die historischen Gebäude sind, wie fast überall, in gutem Zustand. In der Fußgängerzone suchen wir nach einer Buchhandlung, um endlich die topographischen Karten zu bekommen, die wir brauchen. Von Deutschland aus hätte es 6 Wochen gedauert. Aber wir haben keinen Erfolg und so müssen wir das auf Warschau verschieben. Vorerst genügen die Detailkaten, die ich im Internet gefunden und ausgedruckt habe.
Weiter geht’s auf dem rechten (nördlichen) Weichselufer Richtung Warschau. An der Straße parken Kolonnen von Autos und überall sehen wir Leute mit großen Eimern voller Pilze, die sie in den Wäldern gesammelt haben.
In Wyszogród überqueren wir wieder die Weichsel, biegen links ab über die Dörfer Richtung Secymin. Der erste Ort ist Sladów. Hier besaß August B. eine Windmühle, bevor er mit meiner Großtante Olga 1919 nach Westen aufbrach und in unserem Dorf die Mühle kaufte. Von einer Mühle ist nichts mehr zu sehen. Später erfahren wir, dass sie an der Grenze zu Kromnów, dem Nachbardorf, gestanden hat.
Langsam wird es aufregend. Unser Ziel, Nowy Secymin, früher Secymin Niemiecki (Deutsch Secymin), ist nicht auf allen Karten verzeichnet. Es liegt direkt am Weichseldeich, 45 km westlich von Warschau und erstreckt sich über mehrere Kilometer. Diese alten Siedlerdörfer in der Weichselniederung haben nichts mit unserer Vorstellung von Dorf zu tun. Jeder Hof liegt auf dem dazu gehörenden Land, so dass die Entfernung zwischen den Höfen entsprechend groß ist.
Zuerst kommen wir an der alten Holzkirche vorbei. Sie steht direkt am Deich und scheint, nach einer Information auf einer Internet-Seite als Baudenkmal eine gewisse Bekanntheit in Polen zu haben.
Wir folgen der Straße, es ist eher ein Schotterweg, der auf halber Höhe den Deich entlang führt, und bekommen einen ersten Eindruck davon, wie meine Großeltern und die älteren Geschwister meines Vaters hier gelebt haben. Die Höfe liegen auf Wurten inmitten ihrer Wiesen und Äcker, einige alte Gebäude sind noch erhalten, wenn auch meistens in schlechtem Zustand. Die traditionellen Häuser und Scheunen sind aus Holz gebaut worden und waren ursprünglich mit Stroh oder Reet gedeckt, was dann später durch Eternit oder Blech ersetzt worden ist. Wohnhaus und Stall befanden sich unter einem Dach, uns fällt auf, wie klein der Wohnteil war, und wir fragen uns, wie man so mit 10 Kindern leben konnte, eine Zahl, die durchaus üblich war. Hier erinnert nichts an die stattlichen Höfe, wie wir sie aus Niedersachsen kennen.
Das Land ist sehr flach und weit, durchzogen von Gräben. Unterbrochen wird die Weite durch alte Kopfweiden, offensichtlich immer noch genutzt, große Pappeln, teilweise auch Eichen und kleinere Gehölzinseln.
Wiese bei Secymin - Foto: Annegret Krause, 2002
Nach vielleicht drei Kilometern halten wir ein Auto an und fragen nach unserer Unterkunft, die wir dann auch bald finden. Es ist ein kleines Gehöft, die Wirtschaftsgebäude und das Gelände wirken etwas unfertig und "in Arbeit", das alte Wohnhaus ist allerdings liebevoll gestaltet.
Ich stehe vor der Tür und lege mir meine polnischen Sätze zurecht. K., unsere Vermieterin, ich sollte besser Gastgeberin sagen, kommt mir zuvor und heißt uns in fließendem Englisch willkommen. Das ist schön, auch S., ihr Mann, spricht fließend Englisch. Und so werden wir viel mehr erfahren und verstehen können, als wir hoffen konnten.
K. zeigt uns unser Zimmer. Es ist einfachst und mit dem Wort "Kammer" am besten bezeichnet. Ein winziger Raum unterm Dach, holzverkleidet, ein Bett, ein Tisch, zwei Stühle. Die Tür schließt nicht richtig, es ist ein altes Haus, dafür steht draußen an der Tür "Proszę pukać Bitte klopfen”. Das muss reichen und es reicht auch.
Viel spielt sich in diesem Haus in der gemütlichen Küche am großen Tisch ab. An vielen schönen Details merkt man K.s Handschrift.
In der Küche wirkt M., die Seele des Hauses, eine ukrainische "Gastarbeiterin". Sie versorgt uns, wann immer wir wollen, mit köstlichstem Essen, sie hält das Haus blitzsauber und ist eigentlich immer freundlich.
Mit ihr und zwei weiteren ukrainischen Arbeitern auf dem Hof gibt es eine neue Sprachbarriere. Sie können nicht besonders gut Polnisch. Sie können die Sprache verstehen und ein Pole kann Ukrainisch verstehen. Aber wir sind keine Polen und so müssen wir uns mit wenigen Sätzen und einzelnen Wörtern verständigen. Und auch das klappt irgendwie.
Es ist noch Nachmittag, so dass wir mit unseren mitgebrachten Fahrrädern eine erste Erkundungsfahrt zur Weichsel unternehmen. Das Deichvorland sieht ganz anders aus, als ich es mir vorgestellt hatte, anders als an der Elbe. Es ist überwiegend mit Auwald bewachsen, unterbrochen von kleineren Weideflächen. Wir finden einen versteckten schmalen Pfad, der uns schließlich auf eine riesige Sandbank führt. Ein richtiger Strand! Das sind andere Dimensionen als in der Elbtalaue: Die Weichsel ist hier breiter und es gibt große Inseln im Fluss, die übrigens früher auch bewirtschaftet wurden.
Gegenüber sehen wir die Silhouette der romanisch-gotischen Basilika in Czerwińsk nad Wisła (Czerwinsk über der Weichsel) hoch auf dem Steilufer der anderen Seite stehend.
Zwei Fischer in einem Kahn versuchen ihr Glück. Als ein großer Schwarm schwarzer Vögel auffliegt, rufen sie uns zu, dass das Kormorane seien. Eine Konkurrenz für sie? Ich glaube, dass die Weichsel wohl noch genug Fische für alle bereithält.
K. hat mir auf meine Frage erklärt, dass der Zustand der Weichsel sich in den letzten Jahren sehr verbessert hat. Auch Luftverschmutzung ist in diesem Gebiet kein Problem, der südlich unmittelbar angrenzende große Kampinoski-Nationalpark hält alles ab. Dorthin machen wir gegen Abend noch einen kleinen Abstecher und nehmen uns vor, dieses Gebiet auf einer größeren Fahrradtour noch einmal gründlicher zu erkunden.
Als wir gegen Abend "nach Hause" kommen, ist ein weiterer Gast eingetroffen: William aus Holland, 34 Jahre alt. Er ist mit seinem Hund zu Fuß unterwegs durch Osteuropa. Ein halbes Jahr hat er sich Zeit genommen. Er geht ohne Landkarte, bleibt, wo es ihm gefällt, schläft gelegentlich unter freiem Himmel, beschützt von seinem Hund, oder wie jetzt auf einem Bauernhof. Sein nächstes Ziel? Weiß er noch nicht. Vielleicht Weißrussland, vielleicht Litauen, mal sehen. Auf jeden Fall will er noch nach Skandinavien, nach Finnland vor allem. Er ist uns sehr sympathisch, ein offener, nachdenklicher und interessanter Mensch. Er hat überhaupt nichts von einem verschrobenen "Spinner". Er sagt, er geht so gerne zu Fuß, denn zu Fuß sieht man am meisten. Und da hat er wohl Recht.
Nach dem Abendessen bietet S. an, uns am nächsten Tag einen versteckten Pfad zur großen Sandbank zu zeigen. Wir müssen lachen. Den haben wir doch längst gefunden! Das geht uns oft auf Reisen so: Hannes und ich haben einen guten Riecher für die verborgenen schönen Plätze.
Wir erzählen S. von unserem Interesse an Familienspuren. Er greift sofort zum Telefon und fragt eine alte Einwohnerin von Secymin nach dem Hof meiner Großeltern. Aber sie weiß es nicht. Meine Großeltern haben den Ort ja schon gegen Ende des ersten Weltkrieges verlassen, um sich weiter flussabwärts erst in Zochowo bei Sierpc, dann in Rosenau bei Kulm (heute Różnowo bei Chełmno), in Schönau bei Schwetz (Przechowo bei Swiecie) und schließlich erst Neuhof und dann in Sausgörken (Suchawa) in Ostpreußen anzusiedeln. Von dort kam meine Großmutter 1945 nach Niedersachsen eine wahre Odyssee.
Ich hatte zunächst einige Hemmungen, über diese Dinge mit einem Polen zu reden. Aber das erwies sich als völlig unbegründet. Man geht inzwischen sehr selbstverständlich mit dieser deutschen Vergangenheit um. S. sagt, die meisten Polen fühlen sehr freundlich (they are feeling friendly). So haben wir es auch in den folgenden Tagen immer wieder bestätigt bekommen.
S. erzählt uns, wie sich die Landwirtschaft in dieser Gegend nach dem Krieg entwickelt hat. Zuerst haben die Leute geglaubt, dies alles sei nur vorübergehend. Die Deutschen würden zurückkommen auf ihre Höfe und sie selbst, die oft aus den an die Sowjetunion abgetretenen östlichen Gebieten Polens gekommen waren, könnten zurück in ihre Heimat. Deshalb haben sie nichts aufgebaut und genommen, was sie brauchten. In der Zeit des Kommunismus wurde die private Landwirtschaft ziemlich stiefmütterlich behandelt. Die jungen Leute übernahmen die Höfe nicht mehr und gingen in die Stadt.
Die kleinen Bauern haben es heute nach wie vor schwer, die früher in dieser Gegend so typische Milchwirtschaft lohnt kaum noch. Es fehlt an Kapital und trotz gegenteiliger Beteuerungen aus der Regierung an Unterstützung.
Inzwischen kaufen Menschen aus Warschau die Höfe, um hier zu wohnen, aber sie bewirtschaften das Land nicht mehr. Und so sieht es teilweise auch aus. Gut für die Natur, aber es tut schon weh, so viel fruchtbares Land ungenutzt zu sehen.