Evelin Stein lebt in Sachsen. Sie und ihre Familie begleiteten ihre Mutter auf eine Reise nach Nowa Wies, Duninow, Karolewo und Sanniki die Gegenden am linken Weichselufer, westlich und südlich von Plock, wo ihre Mutter bis 1956 gelebt hat.
Die Reise nach Polen wird zu einer Reise in die Vergangenheit und die verschiedenen Generationen scheinen manchmal durchaus unterschiedliche Sichten auf die Dinge zu haben …
In den vergangenen Jahren häuften sich bei Besuchen zu Hause Gespräche über "früher". Meine Großeltern mütterlicherseits stammen aus der Gegend zwischen Wloclawek, Gostynin und Plock.
Mit der Zeit verfestigte sich in unserer Familie der Wunsch, die Gegend, aus der meine Mutter stammt, einmal persönlich kennen zu lernen. Das Dorf, in dem der großväterliche Hof und ihr Elternhaus standen, einmal in Augenschein zu nehmen, vielleicht auch zu erkunden, ob noch etwas zu finden ist, was auf unsere Vorfahren schließen lässt.
Nachdem wir uns im Internet ein Hotel mit Tiefgarage in Wloclawek gesucht und per E-Mail die entsprechenden Zimmer gebucht hatten, konnten wir mit der Routenplanung beginnen und unserer Reise stand nichts mehr im Weg:
An einem Freitagmorgen im August 2003 brechen wir zu sechst mit zwei Autos frühzeitig in Richtung Frankfurt/Oder auf.
Auf der E30 bleiben wir, bis wir Poznan erreichen. Die Straßenverhältnisse sind etwas schwierig, da es sich bei der E30 um die äußerst befahrene Fernverbindung Richtung Osten handelt. Sehr viele LKW benutzen diese Schnellstraße, sodass es stark ausgefahrene Spurrinnen gibt. Überholen ist ebenfalls eine gewöhnungsbedürftige Übung, da es nur eine breite Spur und einen Standstreifen gibt. In "guten" Zeiten kann es durchaus passieren, dass vier Autos nebeneinander auf der Straße fahren.
In Poznan legen wir eine größere Pause ein, die wir zu einem Stadtbummel durch die schön restaurierte Altstadt und einem Mittagessen nutzen. Da unsere Mutter mit uns gemeinsam unterwegs ist, haben wir keinerlei Verständigungsschwierigkeiten. Ihre Polnischkenntnisse sind immer noch sehr gut, wenn ihr vielleicht auch einige moderne Wörter unbekannt sind.
Am frühen Nachmittag geht es weiter Richtung Konin. Auf dieser Strecke benutzten wir ein Teilstück der neu gebauten Autobahn Richtung Warschau. Viele Kilometer eintönige Betonbahn, sehr ermüdend, aber dann gibt es doch noch eine Abwechslung. Mehr oder weniger unverhofft taucht die Maut-Stelle auf, die wir aber ohne Probleme passieren. Zehn Zloty für einen PKW ist keine große Ausgabe.
Wieder auf der Landstraße müssen wir an einer Straßenbaustelle halten, bis die Fahrbahn freigegeben wird. Schon springen einige Jugendliche an unser Auto, um die Scheiben zu säubern. Meine Mutter kann es nicht fassen. "Damals hätten sie dich verprügelt, wenn du ein deutsches Wort gesagt hättest, und jetzt das!"
Meiner Mutter fällt diese Fahrt sowieso am schwersten, es ist ja nicht einfach nur eine Reise in ihre Kindheit und Jugend, sondern auch eine gnadenlose Erinnerung an persönlich erlittene Ungerechtigkeiten, jahrelang ertragene Kränkungen und schwerste körperliche Arbeit.
Über Kutno und Gostynin nähern wir uns also unserem "Forschungsgebiet". In Skoki finden wir nahe an der Weichsel einen Parkplatz und können den Fluss und das Gebiet ein erstes Mal auf uns wirken lassen. Bei einer Tasse Kaffee werden untereinander erste Eindrücke und Entdeckungen ausgetauscht. Vor ungefähr 25 Jahren waren meine Eltern schon einmal in dieser Gegend, manches hat sich inzwischen stark verändert. Relativ geruhsam fahren wir in Richtung Wloclawek und lassen zunächst nur Ortsschilder, Namen und die Landschaft auf uns wirken.
Weichsel bei Skoki - Foto: Evelin Stein, 2003
Nach kurzem Suchen finden wir unser Hotel, melden uns an und können unsere Autos in die Tiefgarage fahren. Dabei gibt es ein wirklich lustiges Erlebnis, denn die Tiefgarage ist in Wirklichkeit eine große Garage, die man mithilfe eines Vorhängeschlosses sichert. Außerdem ist das Hofgelände, auf dem sich die Garagen befinden, mit einem Schlagbaum gesichert, den man ebenfalls mit einem Schloss versperren muss.
Das Ein- und Ausparken dauert so zwar immer ein Weilchen, aber dafür sind unsere Autos wirklich sehr sicher.
Das Hotel selbst ist durchaus empfehlenswert. Die Zimmer sind sehr geräumig und sauber. Dem Hotel angegliedert ist ein Restaurant, in dem man das Frühstück einnehmen kann. Unser Abendessen haben wir uns auf unseren Rundgängen durch Wloclawek in anderen Gaststätten schmecken lassen. Von Sonnabend zu Sonntag wird der Restaurantsaal gern von Einheimischen für Hochzeitsfeiern genutzt. Da es sich hier um landestypische Feiern handelt, muss man sich auf Live-Musik bis 06.00 Uhr morgens einstellen. Empfehlenswert ist vielleicht ein Zimmer auf der Hotelseite, die der Straße abgewandt ist.
Am Sonnabendmorgen machen wir uns also auf den Weg zum Geburtsort meiner Mutter, nach Karolewo. Auf dem Weg dorthin halten wir am Ortseingang von Nowa Wies Neudorf. Es ist ein wenig schwierig, den Platz der alten evangelischen Kirche von Nowa Wies zu finden. Auf einem Hügel, der inzwischen dicht von Bäumen und Gestrüpp bewachsen ist, stand sie bis 1946 oder 1947. Dann wurde sie von polnischen Einheimischen abgerissen, die die Steine in ihren Wohnhäusern verbauten. Eines dieser Häuser werden wir wenig später sehen.
Nachdem wir auf dem Hügel nach letzten Spuren gesucht, diese im hohen Gras aber nicht gefunden haben, wollen wir unser Glück in Karolewo versuchen. Zunächst ist es nicht ganz einfach, den Abzweig zu finden, dann gelingt es uns aber doch noch. Da wir nicht genau einschätzen können, wo wir die Autos abstellen können oder wie die Straßen beschaffen sind, parken wir die Autos am Straßenrand und machen uns zu Fuß auf den Weg. An einigen Häusern kommen wir vorbei, zu denen meine Mutter natürlich die eine oder andere Geschichte erzählen kann.
Bauernhof in Karolewo - Foto: Evelin Stein, 2003
An einer Wegkreuzung wissen wir nicht weiter, die Orientierung fällt meinen Eltern schwer, denn in den vergangenen Jahrzehnten sind die Bäume so hoch gewachsen, Wege zugewuchert, Felder neu angelegt worden, so dass eigentlich eine andere Landschaft entstanden ist. Trotzdem finden wir den Weg ins eigentliche Dorf. Ab und zu begegnet uns jemand. Offensichtlich weiß man hier schon, dass Fremde gekommen sind. Meine Mutter spricht eine ältere Frau an und fragt nach ehemaligen Bekannten. Schnell wird geklärt, wer meine Mutter ist und neben den Informationen über viele inzwischen Verstorbene sind auch Freude und Erstaunen über diesen Besuch zu erkennen.
Der Kellerhügel ist alles, was an den Hof der Großeltern erinnert - Foto: Evelin Stein, 2003
Das Elternhaus meiner Mutter steht nicht mehr. Eigentlich ist überhaupt nichts mehr vom Hof unserer Großeltern zu sehen. Einzig ein kleiner bewachsener Hügel, unter dem sich einst der Keller befand, ist noch zu erkennen. Nachbarn erzählen, dass in ganz Karolewo eigentlich kein deutsches Haus mehr steht.
Wir kommen an einem Hof vorüber, in dem eine jüngere Frau arbeitet. Meine Mutter fragt nach einer polnischen Bekannten, die hier lebte. Schnell stellt sich heraus, dass sie die Tochter ist und sich ihre Mutter im hinteren Teil des Hofes aufhält.
Wir werden hereingebeten und die Bekannte meiner Mutter kann kaum glauben, wer da zu Besuch kommt. In kurzer Zeit werden Unmengen an Informationen ausgetauscht, eigentlich werden zwei Lebensläufe erzählt. Für mich ist alles ausgesprochen interessant. Meine Mutter übersetzt für mich immer Teile des Gesprächs, worauf die Frau erstaunt fragt, ob ich denn gar kein Polnisch könne. Auch die Frage, ob meine Mutter nicht mehr arbeiten musste in ihrem Leben, lässt mir ein wenig den Atem stocken. Aus den Erzählungen weiß ich, was, wie lange und unter welchen Bedingungen meine Mutter seit ihrem 9. Lebensjahr für die polnischen Bauern und später für ein Staatsgut arbeiten musste. Aus eigenem Erleben weiß ich, wie schwer sie später gearbeitet hat, und dann eine solche Frage.
Aber sicher sieht meine Mutter im Vergleich zu dieser Frau, die etwa gleich alt ist, um 20 Jahre jünger aus.
Später erfahre ich, dass der Vater dieser Frau der Bauer war, der den gesamten Besitz unserer Großmutter "beschlagnahmt" hat und sie und ihre beiden Kinder lange Zeit ohne jegliche Bezahlung für ihn arbeiten mussten. Wieder staune ich über meine Mutter, es ist kaum Groll oder Zorn zu spüren, als sie erzählt, dass diese Frau damals ihre Kleider trug. "Sie war doch auch nur ein Kind und konnte nichts für das, was die Erwachsenen getan haben."
Nachdem auch hier noch über ein paar gemeinsame Bekannte gesprochen wurde, brechen wir wieder auf, denn unsere restliche Familie sieht sich in der Zwischenzeit draußen um. Wir gehen auf den ehemaligen evangelischen Friedhof von Karolewo. Viel ist nicht mehr von ihm zu sehen. Einige eiserne Grabeinfassungen sind noch zu erkennen, bei zwei oder drei Gräbern kann man noch die Namen erkennen. Ansonsten wuchert hier alles vor sich hin. Es wird vielleicht nicht mehr sehr lange dauern, dann wird hier wohl nichts mehr zu sehen sein.
Als wir später die Straße erreichen, sind wir doch froh, dass unsere Autos noch unversehrt da stehen. Blöde Voreingenommenheit?
Unsere nächste Station ist Neu-Duninow / Duninów Nowy. Hier lebten unsere Urgroßeltern von der Seite meiner Großmutter. Der Urgroßvater war Verwalter auf dem Gut des Barons von Ike bis er während des Ersten Weltkrieges nach Russland deportiert wurde. Erst 1921 kehrte er zurück und starb wenig später.
Wohnhäuser in Duninów Nowy - Foto: Evelin Stein, 2003
Wir sehen uns das Schloss, die alten Wohnhäuser, in denen die Urgroßmutter lebte und den katholischen Friedhof an. Hier finden wir erste Spuren unserer Verwandtschaft. Die Schwester unserer Großmutter war mit einem Polen verheiratet und hier geblieben.
Duninow Schlossgelände - Foto: Evelin Stein, 2003
Anschließend fahren wir nach Sanniki. Hier mussten unsere Großmutter und ihre beiden Kinder von 1950 bis 1956 auf dem Staatsgut arbeiten, bevor ihre Ausreise genehmigt wurde. Wir sehen uns den Schlosspark an, in dem schon Frederic Chopin spazieren ging. An dem Wohnhaus, in dem die Großmutter mit ihren Kindern ein Zimmer bewohnte, hat sich nichts verändert.
Schloss Sanniki - Foto: Evelin Stein, 2003
Den Rückweg nehmen wir über Plock, um auch hier die Altstadt zu sehen.
Am Sonntagmorgen brechen wir Richtung Heimat auf, aber wir nutzen noch die Gelegenheit, die schöne mittelalterliche Stadt Torun zu besichtigen.
Für einen nächsten Besuch steht schon fest, dass wir noch etwas gezielter alle die Ort besuchen wollen, in denen Vorfahren von uns gelebt haben, Viele von ihnen haben wir aber erst in den letzten Monaten herausgefunden, nachdem wir die Arbeit mit den Geburtsregistern intensiviert haben.
Wir können eine solche "Reise in die Vergangenheit" gern empfehlen. Nirgends haben wir Anfeindungen oder Ähnliches erlebt. Überall waren wir gern willkommen. Bedenken sollte man nur, dass es für diejenigen, die selbst noch eine Erinnerung an ihre alte Heimat haben, eine emotional sicher sehr schwere Reise ist.