"Ihr müsst die Kaiserstraße finden", hatte mir Tante Amanda gesagt, die ich vor unserer Abreise noch einmal gründlich über Wionczemin, ihren Heimatort, ausgefragt habe. "Dort steht mein Hof und auch der der Krauses." Einschränkend hatte sie hinzugefügt: "Na ja, die wird wohl heute nicht mehr so heißen." Logisch!
Unser heutiges Ziel sind die ehemals deutschen Siedlerdörfer in der Nähe von Płock. Hier, in Zyck, Wionczemin, Sady, Troszyn, Nowosiadło usw. hat sich fast 200 Jahre lang das Leben eines Teils meiner Vorfahren abgespielt. Es waren Holländer, Brandenburger, Salzburger Hugenotten, Polen.
Das muss erklärt werden:
Seit dem Mittelalter gab es in Polen mehrere Siedlungswellen westeuropäischer Einwanderer.
In der Weichselniederung, zunächst im Mündungsdelta, waren es im 16. Jahrhundert vor allem Holländer, die man in das heutige Polen holte, um die Sumpfgebiete entlang des Flusses urbar zu machen. Sie kannten sich damit aus, bauten Deiche, zogen Gräben und trieben vor allem Viehzucht und Milchwirtschaft. Auch später noch nannte man alle Siedlungen, die in der gleichen Weise angelegt wurden, "Holländereien", auch wenn die Bewohner nicht mehr aus Holland gekommen waren.
Diese Gebiete waren für die polnischen Grundherren uninteressant und so wurden die Siedler, im Gegensatz zu den polnischen Bauern, nicht in das hier besonders drückende Fronsystem gepresst, sondern konnten relativ frei wirtschaften.
Freiheit von Fronherrschaft, das war auch später der Motor für weitere Siedlungsbewegungen. Deutsche Bauern flüchteten aus der Feudalabhängigkeit nach Polen oder es waren nicht erbberechtigte Nachkommen von Bauern, die dem sozialen Abstieg zu entkommen versuchten. Viele kamen aus Glaubensgründen: Protestanten aus Österreich, Holland und Deutschland.
Die Bedingungen waren günstig: Man musste sein Vorhaben erklären, die Art, in der man wirtschaften wollte und bekam dann ein Stück Land für einen geringen Preis zugeteilt. Je nach Herkunft und Erfahrung im Schwemmgebiet am Fluss oder etwas höher gelegen auf den leichteren Böden der Wälder. Man bekam Auflagen, wie etwa Beteiligung am Deich- und Wegebau, Anlage von Obstgärten, ansonsten konnte man frei wirtschaften. Nach 12 Jahren ging dann der Hof in Eigentum mit allen Rechten (Verkauf, Erbrecht) über.
Auf diese Weise entstanden, sich allmählich weichselaufwärts vorschiebend, in der Niederung bis in das 19. Jahrhundert hinein immer mehr deutsche Kolonien, gesondert von den polnischen Ansiedlungen. Wionczemin Niemiecki (Deutsch W.) wurde 1759 gegründet, Secymin Niemiecki (Deutsch S.) um 1800. Die Siedler behielten ihre Sprache bei, bauten eigene Schulen und protestantische Kirchen und zeigten nur in geringem Umfang Neigungen sich zu assimilieren.
Auf dem Wiener Kongress 1815 wurde Mittelpolen als Königreich Polen geschaffen, was dann in Personalunion mit Russland verbunden wurde. Es gehörte bis zum Ende des ersten Weltkrieges faktisch zu Russland. So mussten denn auch die deutschen Siedler im russischen Militär dienen. Die Amtssprache war in dieser Zeit erst Polnisch, ab 1868 Russisch, die Kirchenbücher wurden in polnischer oder russischer Sprache geführt, letztere noch dazu in der alten russischen Schrift, was die Nachforschungen sehr erschwert.
So viel, in aller Kürze, zum historischen Hintergrund.
Auf unserer Fahrt kommen wir zuerst nach Sladów, einem lang gestreckten Reihendorf entlang des Deiches. B., eine Amerikanerin, mit der mich eine "angeheiratete" Verwandtschaft verbindet und die mich mit vielen Daten über meine Familie versorgt hat, hatte mir geschrieben, dass hier ein alter Friedhof am Ortsausgang liegen müsste. Wenn es ihn noch gibt, so wird er überwuchert von Gesträuch oder Wald sein. Nachdem die Deutschen nach dem Krieg Polen verlassen mussten, wird es niemanden mehr gegeben haben, der die Gräber pflegte und so hat die Natur diese Plätze in Besitz genommen. Wir halten also Ausschau nach einem Gebüsch, aber es gibt nichts, was nach einem verborgenen Friedhof aussieht.
So biegen wir zunächst einmal Richtung Deich ab und erreichen ein großes Mahnmal. Es ragt vor dem Deich hoch auf, davor stehen einige einfache Bänke. Wir stellen uns Schulklassen vor, die hier den Erläuterungen ihres Lehrers lauschen müssen. Die Tafeln am Denkmal würdigen die Bewohner des Dorfes und die Soldaten, die hier im September 1939 im Kampf gegen die deutschen Truppen ihr Leben gelassen haben. Bis hierher waren die Deutschen innerhalb der ersten Kriegswochen vorgedrungen, in dieser Region nördlich von Kutno beendeten sie den "Blitzkrieg", der mit der Niederlage Polens und - gemäß dem Moskauer Abkommen zwischen Hitler und Stalin - mit der erneuten Aufteilung zwischen Deutschland und der Sowjetunion endete.
Nachdem es nur 21 Jahre lang einen souveränen polnischen Staat gegeben hatte, war dieses Land wieder einmal von der europäischen Landkarte verschwunden.
In den folgenden Kriegsjahren hat Polen 17 % seiner Bevölkerung verloren, mehr als jedes andere Land der Erde. Verloren durch Mord, durch Vernichtung in Konzentrationslagern, im deutschen Bombenhagel und durch Verschleppung und Zwangsarbeit. So hat von den 2 Millionen Polen, die nach Sibirien deportiert worden sind, nicht einmal die Hälfte das erste Jahr überlebt.
Wenn wir an solchen Plätzen stehen, kommen uns wieder Zweifel, ob wir mit unserem Anliegen, Spuren unserer Angehörigen zu finden, nicht zu harmlos und blauäugig sind. Wir wissen nicht, wie so etwas wahrgenommen wird. Aber S. wird es beurteilen können ("They are feeling friendly!").
Wir gehen noch ein wenig auf dem Deich entlang, genießen bei traumhaftem Herbstwetter die Weite der Landschaft und machen am Ufer einige Photos von diesem wunderschönen Fluss. Einrahmen könnte man diese Bilder! Ein alter Apfelbaum verschwendet seine Früchte, sie liegen rot und appetitlich im Gras. Wir heben einige auf. Sie schmecken sehr süß, wenig Säure. Schade, wir haben nicht daran gedacht, Tante Amanda ein paar davon mitzubringen. vielleicht hätte sie die Sorte gekannt.
Blick über die Weichsel bei Sladow - Foto: Annegret Krause, 2002
Unsere nächste Station ist Wyszogród auf dem Steilufer der gegenüberliegenden Seite gelegen. Eine verschlafen wirkende kleine Stadt, wir hätten Lust auf einen Kaffe, aber wir finden weder eine Bar noch ein Café.
Wyszogród hat zwei Kirchen. Die eine nehmen wir genauer in Augenschein und tatsächlich ein Informationsblatt an der Tür bestätigt unsere Vermutung: Es ist die ehemals evangelisch-augsburgische Kirche. Auch hier haben Verwandte von mir geheiratet, wahrscheinlich auch meine Großeltern. Neben der Kirche sehen wir ein verwildertes Grundstück. Ich entdecke ein kleines Eisenkreuz, das aus dem Gebüsch hervorragt. Ein Friedhof? Das wollen wir doch jetzt genau wissen. Und tatsächlich, unter Sträuchern, im Brennessel- und Brombeerdicklicht finden wir Grabeinfassungen und einige wenige Grabsteine mit deutschen Aufschriften. Die Namen sagen uns allerdings nichts.
Ein weiteres Denkmal am Brückenkopf und eine Landkarte informieren uns genauer über die Schlachten vom 17. bis 19. September 1939. Es muss eine wahre Hölle gewesen sein.
Und das Verhalten der hier lebenden Deutschen in dieser Zeit? Eine schwierige Frage, mit der sich auch deutsche und polnische Historiker schwer tun. Etwas dazu in der hier gebotenen Kürze zu sagen beinhaltet notwendigerweise das Risiko der Vergröberung und mag den einen oder anderen zum Widerspruch reizen. Ich will es trotzdem versuchen:
Folgt man der Fachliteratur, so haben sich im Prinzip die deutschen Siedler nach dem ersten Weltkrieg dem neuen polnischen Staat gegenüber loyal verhalten, wie auch vorher gegenüber Russland. Sie dienten im polnischen Militär und kämpften z.T. sogar gegen die einmarschierenden deutschen Truppen.
Dennoch gab es aus der großen Entfernung Neigungen zu einem verklärenden Deutschlandbild. Während der 30er Jahre verschärften sich die Spannungen zwischen Polen und Deutschen. Bis dahin gute Nachbarn, empfanden sie sich zunehmend als Bedrohung, was kurz vor und zu Beginn des Krieges auch dazu führte, dass in Polen lebende Deutsche verschleppt und umgebracht worden sind, wenn auch nicht in dem Ausmaß, den die Nazipropaganda glauben machen wollte und zum Vorwand für den Überfall auf das Nachbarland benutzte.
Der Einmarsch der deutschen Truppen wurde somit zunächst von vielen Siedlern als Befreiung aus einer so empfundenen lebensbedrohlichen Situation begrüßt.
Als dann klar wurde, dass mit den Truppen auch schreiendes, unfassbares Unrecht Einzug hielt, distanzierten sich viele wieder. Die Äußerung eines Posener Geistlichen mag das illustrieren: "Die Deutschen haben wir erwartet und freudig begrüßt, aber gekommen sind die Nationalsozialisten, die nicht die Deutschen sind, die wir kannten."
Dennoch bleibt die Frage, wie sich während der Zeit der Besetzung Polens das Zusammenleben zwischen den als "Herrenmenschen" deklarierten Deutschen und den zu "Untermenschen" erklärten Polen gestaltet hat.
Umgekehrt bekamen viele der hier lebenden Deutschen, sozusagen als Stellvertreter, im September 1939 und nach dem Krieg die Bitterkeit und die manchmal blutige Rache von Polen zu spüren. Entsetzlich viel Leid auf beiden Seiten!
So viele schwere, bedrückende Fragen. Wir werden sie heute nicht klären können.
Es ist schon fast Mittag und wir wollten doch nach Wionczemin!
So fahren wir zurück über die Brücke, biegen nach rechts auf die 575, die südlich der Weichsel Warschau mit Płock verbindet. Der erste größere Ort ist Iłów, lange Zeit neben Gąbin (für das unsere Zeit leider nicht gereicht hat) zentrale Kirchengemeinde dieser Gegend. Die Kirche ist, wie alle Kirchen in Polen, in ausgezeichnetem baulichem Zustand. (Nachtrag: Es ist die katholische Kirche, die evangelische existiert nicht mehr) Wir werfen einen kurzen Blick hinein: Hier wurde also geheiratet und getauft. Die Begräbnisse dagegen fanden wohl in den kleinen örtlichen Friedhofskapellen statt.
In einem kleinen Laden versorgen wir uns noch mit einem Picknick, fahren weiter und biegen dann in Wymyśle Polskie rechts ab in Richtung Weichsel. Die kleine Straße führt uns über Juliszew, Sady, Nowosiadło, Swiniary nach Wionczemin, Namen, die mir inzwischen wohlvertraut sind, Geburts-, Wohn- und Sterbeorte meiner Ur-Ur-Großeltern und ihrer Angehörigen.
Wionczemin. Die Kaiserstraße sollen wir finden! Das sieht auf den ersten Blick nach einem völlig hoffnungslosen und absurden Unterfangen aus. Wir sehen nur Feldwege, weit verstreute Höfe, die traurigen Reste einer heruntergekommenen PGR, dem polnischen Pendant der LPGs in der DDR.
Die zweite Information, die wir telefonisch noch nachträglich erhalten haben, ist die alte deutsche Kirche, die einen gewissen Anhaltspunkt darstellen könnte. Wir sehen sie auch, in großer Entfernung. Wir versuchen, über die Feldwege dorthin zu kommen, aber schließlich geben wir erst einmal auf. Irgendwo enden die Wege immer auf dem Acker oder sie werden unbefahrbar.
Es muss doch eine Zufahrt zur Kirche geben, meint Hannes. Ja, eigentlich müsste es das. Nun gut, wir verlassen den Ort noch einmal und versuchen es über die Deichstraße. Dort entschließen wir uns erst einmal zu einer Mittagspause am Ufer. Wieder sind wir hingerissen von der Schönheit des Flusses und des Deichvorlandes. Gegenüber liegt eine Insel, eine "Kämpe" oder auf Polnisch "Kępa". Auch diese Inseln wurden früher genutzt, teilweise waren sie sogar bewohnt. Im Sommer wurden die Kühe und die Pferde auf die saftigen Weiden der Insel gebracht, hat Tante Amanda erzählt. Nicht etwa mit einem Floß! Nein sagt sie, Tiere können doch schwimmen. Man band einfach die Leitkuh an einen Kahn und die Herde folgte brav. Sie schwammen "ganz manierlich" neben dem Boot.
Wir folgen der Deichstraße weiter. Aber auch hier finden wir keine Abzweigung, die zur Kirche führt, sondern wir kommen über die Nachbarorte Troszyn Nowy (früher Deutsch Troszyn) und Troszyn Polski wieder zurück nach Wionczemin.
Hof in Troszyn Foto: Annegret Krause, 2002
Unser letzter Versuch, uns der Kirche per Auto zu nähern, endet damit, dass wir den Wagen schließlich am Wegrand stehen lassen und zu Fuß weitergehen. Es gibt tatsächlich keine Straße, sondern nur einen Pfad über eine Wiese. Das Backsteinkirchlein steht mitten in der Feldmark ohne richtige Zufahrt, damit ist klar, dass sie nicht mehr genutzt wird.
Die Kirche in Wionczemin - Foto: Annegret Krause, 2002
Unmittelbar daneben steht ein altes, etwas baufälliges Haus, das ehemalige Pfarrhaus? (Nachtrag: Es ist die ehemalige Schule.)