Bei der Durchsicht mittelpolnischer Kirchenbüchern hat man immer wieder den Eindruck, dass die Anzahl der Geburten die Zahl der Todesfälle regelmäßig und oft ganz erheblich übersteigt.
Können diese Zahlen die tatsächliche Zahl der Todesfälle wiedergeben?
Die Vorstellung einer beträchtlichen Zahl von Vorfahren, die irgendwie "erhalten" geblieben sind und im Winkel hinter dem Ofen nur darauf warten, aus den letzten 200 Jahren zu plaudern, ist für den Genealogen natürlich verführerisch - aber dennoch unrealistisch.
Wenn die Kirchenbücher dann also doch genau sind, wie kommen diese Abweichungen zustande? Oder ist es doch nur ein subjektiver Eindruck aus einzelnen Jahren, der bei der Untersuchung längerer Zeiträume verwischt?
Einige Beispiele für Zeiträume von 10 Jahren:
Anteil Todesfälle gemessen an Anzahl Geburten (=100%) im Zeitraum
Kirche
1810-1819
1820-1829
1830-1839
1840-1849
1850-1859
1860-1869
Płock
76 %
71 %
98 %
69 %
104 %
Lipno
39 %
56 %
70 %
Ossówka
77 %
65 %
87 %
73 %
Diese Zahlen bestätigen den Eindruck, dass die Zahl der Todesfälle für gewöhnlich geringer ist, als die Zahl der Geburten. Es gibt jedoch auch Ausnahmen (Płock 1850-1859) und ein Schema für die starken Schwankung der Anteile ist nicht erkennbar.
Wie lässt sich die geringere Anzahl der Todesfälle erklären?
Eine mögliche Erklärung ist der stetige Bevölkerungszuwachs. In Phasen des Bevölkerungsanstieges ist die Zahl der Geburten immer höher, als die Zahl der Todesfälle, denn der ebenfalls zu erwartende Anstieg der Todesfälle ist ca. um die durchschnittliche Lebenserwartung auf der Zeitachse nach hinten verschoben. Es ist dabei unerheblich, ob der Bevölkerungszuwachs durch höhere Geburtenzahl oder durch Zuwanderung begünstigt wird.
Daran ändert auch die hohe Kindersterblichkeit nichts, da die Kindersterblichkeit beide Zahlen (fast) im gleichen Jahr um den (fast) gleichen Wert ansteigen lässt.
Eine etwas geringere Anzahl der Todesfälle ist also für Gegenden, in denen sich Kolonisten ausbreiteten absolut normal.
Aber was ist mit den sehr viel extremeren Abweichungen in den katholischen Kirchenbüchern, in denen vor 1800 auch die deutschen Kolonisten geführt wurden? In ihnen liegt der Anteil der Todesfälle oft nur bei ca. 25%.
Eine genauere Betrachtung einiger katholischen Kirchenbücher, in denen die polnischen und deutschen Familiennamen gut unterscheidbar sind, führt zu dem Ergebnis, dass in bestimmten Kirchenbüchern Todesfälle von Kolonisten bzw. von "acatholici" gar nicht verzeichnet sind.
Lag das daran, dass die Siedler schon früh eigene Friedhöfe hatten, die Bestattungen nach eigenem Ritus selbst vornahmen und sich den Weg zum Priester sparten?
Oder waren die Kirchenbücher zu dieser Zeit weniger standesamtliche Dokumentation als vielmehr Tätigkeitsnachweis des Priesters, in dem nur die tatsächlich vorgenommenen Amtshandlungen vermerkt wurden?